Samstag, 1. Dezember 2012

Ya tengo mi hijita... (Ich habe schon eine kleine Tochter)

Stellt euch mal ein 18-jähriges Mädchen in Deutschland vor, an was denkt ihr? Was macht sie in ihrer Freizeit? Wie lebt sie?
Sie ist wohl gerade mit der Schule fertig und beginnt ihr Studium, oder sie macht eine Ausbildung. Den Führerschein hat sie vielleicht auch schon. Und in der Freizeit trifft sie sich mit ihren Freunden. Sie genießt einfach ihr Leben.
So oder so ähnlich werden eure Gedanken wohl gewesen sein.

 Dieses Bild eines 18-jährigen Mädchens trifft leider hier in Peru nicht immer zu. Vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten ist die Realität leider oft eine ganz andere.

Ich möchte euch heute jemanden vorstellen, der mich sehr zum Nachdenken gebracht hat.
Ihr Name ist Soledad, sie ist 18 Jahre alt und ihre Realität entspricht ganz und gar nicht den oben genannten Vorstellungen.

 Soledad war vor etwa 2 ½ Jahren, als sie gerade 16 geworden ist, sehr verliebt. Sie wollte für immer mit diesem Jungen zusammen sein und ist deshalb mit ihm von zuhause abgehauen. „Jugendlicher Leichtsinn“, „Dummheit“, etc., solche Gedanken kommen jetzt vielleicht einigen von euch. Doch so leicht ist das alles nicht zu erklären. In den ärmeren Bevölkerungsschichten fehlt es vielen Jugendlichen, vor allem Mädchen, an Zuneigung und Liebe. Zuhause müssen sie viel arbeiten und die Eltern geben ihnen selten das Gefühl, dass sie geliebt werden. Wenn dann ein Junge in ihr Leben tritt, der sie wirklich zu mögen scheint und ihr die Zuneigung gibt, die sie so vermisst, dann ist sie einfach glücklich. In den Telenovelas (davon gibt es hier einige) wird ja auch immer gezeigt, wie zwei sich treffen, sich verlieben und auf rosa Wolken schweben. Da trifft dann wohl etwas jugendlicher Leichtsinn auf den Wunsch nach Geborgenheit und das Verlangen, geliebt zu werden. Dazu kommt noch das beschönigte, realitätsfremde Bild, welches die Medien vermitteln und schon ist es passiert: Das Mädchen verliebt sich in den vermeintlichen Traummann und das vermeintlich tolle Leben mit ihm.
Da Sexualität in der ärmeren Bevölkerung Perus noch immer eher ein Tabuthema ist, wird selten verhütet. Außerdem gibt es viele Menschen, die gegen Verhütung sind.
Und dann ist es auch schon passiert, aus einem verlieben Schweben auf rosa Wolken wird bitterer Ernst.

So war es auch bei Soledad. Nach ca. einem Monat hat der „Traummann“ sie verlassen und sie kehrte nach Hause zurück. Bald musste sie jedoch feststellen, dass sie schwanger war.
Heute ist Soledad 18 Jahre alt und hat ein kleines Töchterchen. Der Vater besucht sie zwar ab und zu, kümmert sich aber nicht wirklich um die Kleine.

Vor einigen Wochen hatte ich ein sehr bewegendes Gespräch mit Soledad.
Hier einige Fragen oder Aussagen, die mir im Gedächtnis geblieben sind:

 Ich habe Soledad gefragt, ob sie zur Schule geht. Ihre Antwort war: „No puedo, ya tengo mi hijita.“ (Ich kann nicht, ich habe schon eine kleine Tochter.) Sie hat sich also durch den Traum von einer glücklichen Familie ihre Zukunft verbaut. Sie kann nichtmehr zur Schule gehen, da sie auf ihre Tochter aufpassen muss. Ihre Mutter unterstützt sie zwar, aber sie muss viel arbeiten, um ihre Familie ernähren zu können. Deshalb muss Soledad sich allein um ihr Kind kümmern.
Soledad hat ihr ganzes Leben in Arequipa verbracht, sie hat die Stadt noch nie verlassen. Das hat mich sehr bewegt. Ich habe mit meinen 18 Jahren schon viel von der Welt gesehen und bin schon als Kind mit meinen Eltern gereist. Da wurde mir wieder einmal mehr bewusst, wie dankbar ich für meine Kindheit und mein Leben sein kann. Wir haben doch alles, was man braucht! Und trotzdem beschweren wir uns über so viel.

 Als dann Deutschland zum Gesprächsthema wurde, hat sich schnell gezeigt, welches Bild Soledad von Deutschland hat. Es fielen Sätze wie: „Du hast bestimmt viel Geld, denn in Deutschland sind ja alle Menschen so reich wie die Millionäre hier in Peru.“ Diesem Vorurteil des reichen Weißen begegne ich hier oft. Die Kinder fragen mich z.B. häufig, ob ich ihnen einen Haargummi schenken oder ein Eis kaufen kann. Aber klar, wenn man um die halbe Welt reisen kann muss man ja auch Geld haben. Außerdem hat die Entwicklungspolitik der letzten Jahre da leider auch ihren Teil dazu beigetragen. Viele Projekte wurden ohne jegliche Mitarbeit oder Beteiligung der Menschen vor Ort gestartet und alles Geld kam aus Deutschland – klar, dass sich so das Bild des reichen Deutschen oder des reichen Europäers einprägt.

 Aber auch andere Sätze über Deutschland sind mir im Gedächtnis geblieben, einige davon haben mich im ersten Moment sogar zum Schmunzeln gebracht. Aber woher soll sie das alles denn auch wissen, sie kennt ja nur Arequipa. Soledad fragte z.B., ob sie, wenn sie nach Deutschland geht, auch weiß werde. Außerdem fragte sie, ob alle Deutschen blond seien und ob wir denn alle so groß seien (sie ist knappe 1,50m groß). Dann wollte sie noch wissen, welche Sprache in Deutschland gesprochen wird und als ich ihr dann einen Satz auf Deutsch gesagt habe, hat sie mich fast ausgelacht und gemeint, dass sich das lustig anhört.

 Dann hat sie noch etwas gesagt, was mich sehr bewegt hat. Sie meinte, dass alle Freiwilligen, die aus Deutschland nach Arequipa kommen, zwar groß seien, aber ihr viel jünger vorkommen als sie selbst.
Und vermutlich hat sie auch Recht. Sie musste auf einmal erwachsen sein, denn sie stand ja nahezu alleine mit einem Baby da. Der tägliche Kampf um Essen und Trinken, das lässt einen reifen – man geht nicht einfach an den Kühlschrank und holt sich, worauf man Lust hat. Nein, man muss hart arbeiten, um die Familie ernähren zu können, viele Menschen haben hier sogar mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen.

Ich habe viel über dieses Gespräch nachgedacht und was geblieben ist, ist vor allem eine tiefe Dankbarkeit für die behütete, sorgenfreie Kindheit und Jugend, die ich erleben durfte. 

Ich möchte hier nicht euer Mitleid für die Menschen in Peru erregen. Im Gegenteil! Die Menschen in La Mansión freuen sich über die kleinen Dinge im Leben und sind glücklich, wenn sie das haben, was sie zum Leben brauchen.


Für die bevorstehende Vorweihnachtszeit wünsche ich euch genau das! Nehmt euch Zeit für die kleinen Dinge im Leben. Wenn euch einfach wieder mal alles über den Kopf wächst und ihr euch über alles und jeden beschwert, dann haltet inne und denkt darüber nach, was ihr den alles habt. Und ich finde man kann echt von Glück reden, wenn man sich nicht jeden Tag Gedanken darüber machen muss, wie man an die Lebensmittel für den nächsten Tag kommt oder womit man den Arztbesuch, den das Kind so dringend braucht, bezahlen kann. Ich möchte hiermit nicht sagen, dass es in Deutschland kein Unglück gibt und ihr kein Recht darauf habt, unglücklich zu sein oder einfach mal über alles und jeden zu motzen. Aber wenn man lernt, die kleinen Dinge zu schätzen, geht vieles einfacher.

 

Eine schöne Vorweihnachtszeit und viele Grüße aus Arequipa!

 

P.S. Für mich ist Weihnachten dieses Jahr ganz anders. Es ist eben doch ein komisches Gefühl, im T-Shirt an Plastikweihnachtsbäumen vorbeizulaufen.  :)
Aber ich habe mir eine Playlist mit Weihnachtsliedern zusammengestellt und von Lara einen Adventskalender bekommen, da kommt zumindest ein kleines bisschen Weihnachtsstimmung auf.